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Münzen und Knochen als Reliquienschmuck?

Zusammenfassung: Ein Reliquienkästchen aus dem ehemaligen Damenstift Wunstorf ist mit Knochenplatten in durchbrochener Arbeit verziert sowie mit zwei Silbermünzen auf dem Deckel. In ihrer äußeren Gestalt unscheinbare Reliquien werden jedoch meist durch kostbare Materialien ausgezeichnet, die auf die ihnen innewohnende Kraft und den Rang der Heiligen hinweisen. Knochen hingegen ist wie Horn ein Nebenprodukt des mittelalterlichen Schlachtbetriebs, ein leicht verfügbares und kostengünstiges Material, das vielfach für Alltagsgegenstände wie Kämme, Würfel oder Spielsteine Verwendung fand. Auch Silbermünzen sind primär dem profanen Bereich, dem Warentausch zugehörig. Daher ist nach einer Erklärung für diese Gestaltung zu suchen. These des Beitrags ist, dass mit den Münzen nicht nur an die herrscherlichen Förderer der geistlichen Stiftsgemeinschaft erinnert, sondern zugleich verdeutlicht wird, dass ihre Gaben dauerhaft dem Wirken Christi und seiner Kirche überantwortet und in deren Dienst gestellt sind. Eine solche Umwidmung veranschaulicht auch die ornamentale Gestaltung des Reliquienkästchens mit Knochenplättchen. Denn das alltägliche Material Knochen wird hier durch den Reliquienkontext sowie die künstlerische Gestaltung aufgewertet, die profane Schmuckformen aufruft, diese jedoch in ein religiöses Zeichensystem transformiert.

Abstract: A reliquary box from the former Damenstift Wunstorf is decorated with bone plates in opus interrasile and two silver coins on the lid. Relics that are inconspicuous in their external appearance, though, are usually decorated by precious materials that indicate their inherent power and the rank of the saints. Bone, on the other hand, like horn, is a by-product of the medieval slaughterhouse, a readily available and inexpensive material that was often used for everyday objects such as combs, dice, or tokens. Silver coins are also primarily associated with the profane sphere, the exchange of goods. An explanation must therefore be sought for this reliquary design. The thesis of this article is that the coins not only commemorate the ruling patrons of the spiritual community of the monastery but also emphasize that their gifts are permanently entrusted to the work of Christ and his church and placed at their service. Such a reassignment is also illustrated by the ornamental design of the reliquary box with bone plates. The everyday material of bone is enhanced here by the relic context and the artistic design, which evokes profane forms of jewelry but transforms them into a religious system of symbols.


Aus dem Besitz von St. Cosmas und Damian in Wunstorf wurde 1862 ein Reliquienkästchen an das Welfenmuseum übergeben. Es stammt aus dem ursprünglich St. Petrus und Paulus geweihten Damenstift Wunstorf. Bischof Dietrich von Minden (r. 853–880) gründete das Stift um 865 und stattete es mit Erlaubnis des ostfränkischen Königs Ludwigs des Deutschen (r. 843–876) aus Eigengut und Besitz des Bistums Minden aus. Ein Privileg des Königs bestätigte 871 dem Stift Schutz, Immunität und die freie Wahl der Äbtissin.[1] Das Kästchen ist materiell unaufwändig gestaltet. Den Holzkern umkleiden ornamental mit Zirkelmotiven verzierte, teils durchbrochen gearbeitete Knochenplatten, denen vergoldete Kupferbleche unterlegt sind.

Abb. 1: Reliquienkästchen aus Wunstorf, um 1000, 18,2 x 12,5 x 7,2cm, Holzkern 1862 erneuert, Schoß neuzeitlich ergänzt, Museum August Kestner, Hannover, Inv. Nr. WM XXI,18,https://nds.museum-digital.de/object/85639. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/, Museum August Kestner, Christian Tepper und Christian Rose. https://nds.museum-digital.de/object/85639. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/, Museum August Kestner, Christian Tepper und Christian Rose.

Abb. 1: Reliquienkästchen aus Wunstorf, um 1000, 18,2 x 12,5 x 7,2cm, Holzkern 1862 erneuert, Schoß neuzeitlich ergänzt, Museum August Kestner, Hannover, Inv. Nr. WM XXI,18, https://nds.museum-digital.de/object/85639. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/, Museum August Kestner, Christian Tepper und Christian Rose.

In der Mittelachse des Deckels sind zwei Silbermünzen eingelassen: ein Silberdenar Ottos I. (936–973) mit der Avers-Inschrift ODDO unter einem Giebel mit bekrönendem Kreuz und ein weiterer Silber­denar mit Tatzenkreuz im Mittelkreis, eventuell Herzog Bernhards I. von Sachsen (973–1011) zuzuordnen.[2]

Abb. 2: Reliquienkästchen aus Wunstorf, Detail des Deckels mit Silberdenar Ottos I. (936973) und einem Silberdenar mit Tatzenkreuz, Museum August Kestner, Hannover, Inv. Nr. WM XXI,18, https://nds.museum-digital.de/object/85639. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/, Museum August Kestner, Christian Tepper und Christian Rose.

Abb. 2: Reliquienkästchen aus Wunstorf, Detail des Deckels mit Silberdenar Ottos I. (936–973) und einem Silberdenar mit Tatzenkreuz, Museum August Kestner, Hannover, Inv. Nr. WM XXI,18, https://nds.museum-digital.de/object/85639. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/, Museum August Kestner, Christian Tepper und Christian Rose.

Abb. 3: Silberdenar Ottos I. (951973), Präge-ort: Magdeburg, 1,41g, D. 22mm, Münzkabinett der Staatlichen Museen, Berlin, Objektnr. 18202365, Aufnahme durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann), https://ikmk.smb.museum/object?id=18202365. Lizenz: keine (Public Domain).

Abb. 3: Silberdenar Ottos I. (951–973), Prägeort: Magdeburg, 1,41g, D. 22mm, Münzkabinett der Staatlichen Museen, Berlin, Objektnr. 18202365, Aufnahme durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann), https://ikmk.smb.museum/object?id=18202365. Lizenz: keine (Public Domain).

Abb. 4: Silberdenar Bernhards I. v. Sachsen (9731011), Prägeort: Lüneburg? 1,21g, D. 20mm, Avers mit Profilbüste und Umschrift BERNHARDVS DVX, Revers mit Tatzenkreuz im Binnenkreis, Umschrift IN NOMINE DNI AMEN, Münzkabinett der Staatlichen Museen, Berlin, Aufnahme durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann), https://ikmk.smb.museum/object?id=18202392. Lizenz: keine (Public Domain).

Abb. 4: Silberdenar Bernhards I. v. Sachsen (973–1011), Prägeort: Lüneburg? 1,21g, D. 20mm, Avers mit Profilbüste und Umschrift BERNHARDVS DVX, Revers mit Tatzenkreuz im Binnenkreis, Umschrift IN NOMINE DNI AMEN, Münzkabinett der Staatlichen Museen, Berlin, Aufnahme durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann), https://ikmk.smb.museum/object?id=18202392. Lizenz: keine (Public Domain).

Die Silberdenare Ottos I. gehören dem type immobilisé bzw. den long-lived coins an, insofern ihr Motivrepertoire stabil ist und sie weite und lange Verbreitung auch im Fernhandel fanden.[3] Münzen dienen in der Regel der Repräsentation des Münzherrn und dem Warentausch. Hier aber sind sie dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten entzogen und in einen anderen, religiösen Kontext überführt. Sie werden ausgestellt, um angeschaut zu werden; ihre Nützlichkeit wird in Bedeutung verwandelt.[4] Doch welche Bedeutung haben sie hier, an einem Reliquienkästchen?

In der Forschung werden die beiden Münzen bloß als Datierungshilfe gewertet, die eine Entstehung des Beinkästchens Ende des 10. Jahrhunderts bzw. um 1000 begründet.[5] Allein Bernd Kluge vermutet, dass die „ästhetisch so anspruchslosen Münzen“ die Objekt-Verortung in Sachsen betonen sollen.[6] Künstlerisch werden sie durch Doppelringe mit Kreisaugen wie von einem Perlenkranz umrahmt und somit ausgezeichnet. Kluge verweist auf zwei weitere zeitgenössische sakrale Kunstwerke, die Münzen integrieren: Zum einen der Andreas-Tragaltar im Trierer Domschatz, zum anderen der Vorderdeckel des karolingischen Evangeliars aus dem Benediktinerinnenkloster Morienval. Der vergleichende Blick auf diese kann Aufschluss über die Bedeutung der Münzen auf dem Wunstorfer Beinkästchen geben.

Der im Auftrag Erzbischof Egberts von Trier (r. 977–993) gefertigte Tragaltar, der laut Inschrift Reliquien des Kreuznagels, des Bartes Petri und die Sandale des Apostels Andreas barg, zeigt an den Langseiten je zwei Senkschmelzplättchen mit Evangelistensymbolen, den himmlischen Begleitern des endzeitlichen Himmelsherrschers.[7] An den Schmalseiten sind karolingische Ornamentplatten aus durchbrochenem Goldblech mit rahmendem Perlbesatz vor rotem Glasgrund wiederverwendet. So wird an die karolingische Blütezeit vor der Zerstörung Triers durch die Normannen 882 erinnert und angeknüpft.[8] In die rückwärtige Platte ist zentral eine Almandinscheibe eingesetzt, deren Mitte ein Gold-Solidus Kaiser Justinians I. (r. 527–565) einnimmt. Dieser ist vielleicht als Hinweis auf die Bedeutung Triers unter den (ost)römischen Kaisern als Residenzstadt zu interpretieren. Die gegenüberliegende Scheibe mit zentralem Edelstein ist neuzeitlich ersetzt; vermutet wird an ihrer Stelle ursprünglich ein Christusbildnis. Der Kaiser erschiene dann als irdischer Stellvertreter Christi.

Abb. 5: Vorderdeckel des karolingischen Evangeliars aus dem Benediktinerinnenkloster Morienval/Oise, 10. Jh., Noyon, Bibliothèque municipale Ms. 1 (nouv. acq.), plat supérieur, https://arca.irht.cnrs.fr/ark:/63955/rk2ex9fephwf. Lizenz: CC BY-NC 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/deed.fr.

Abb. 5: Vorderdeckel des karolingischen Evangeliars aus dem Benediktinerinnenkloster Morienval/Oise, 10. Jh., Noyon, Bibliothèque municipale Ms. 1 (nouv. acq.), plat supérieur, https://arca.irht.cnrs.fr/ark:/63955/rk2ex9fephwf. Lizenz: CC BY-NC 3.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/deed.fr.

Der Einband des Evangeliars aus Morienval besteht aus einer kreuzförmig durchbrochen gearbeiteten und von Flechtbandleisten aus Elfenbein gerahmten Hornplatten, in die jeweils fünf Elfenbeinreliefs eingelassen sind. Im Zentrum des Vorderdeckels thront Christus in einer Mandorla zwischen Petrus und Paulus und übergibt ihnen Buch bzw. Schlüssel (traditio legis). Er wird als endzeitlicher Herrscher begleitet von den inschriftlich kommentierten Evangelistensymbolen in den Kreuzarmen. In der Mittelachse ist unten eine Münze Lothars I. (r. 840–855) eingefügt, oben befand sich bis Ende des 19. Jahrhunderts eine (heute verlorene) Münze Karls des Großen oder Karls des Kahlen.[9] Christus legitimiert in Gestalt der Apostelfürsten das geistliche Amt, den Lehrauftrag wie die sakramentale Vollmacht der Kirche. Er ist zugleich der Bezugspunkt für die in den Münzen repräsentierten karolingischen Herrscher, seine irdischen Stellvertreter. Mit ihnen wird an die Gründung des Klosters und seine königlichen Donatoren erinnert. In Gestalt der Münzen wird verdeutlicht, dass deren Gaben dauerhaft dem Wirken Christi und seiner Kirche überantwortet sind und diesen dienen.

Es erstaunt, dass für den Schmuck des kostbaren Evangeliars, des Wortes Gottes, Hornplatten, d.h. ein unedles Material tierischer Herkunft, genutzt wird. Denn Horn wird im Frühmittelalter vor allem mit Trinkhörnern assoziiert; es war als blutiges bzw. unreines Material für eucharistische vasa sacra verboten.[10] Indem das Horn hier flächig in geometrische Kreuz-Figuren gegliedert wird, erscheint es transformiert in ein religiöses Zeichen und in Schmuck. Wie die Münzen wird es demonstrativ aus dem profanen Gebrauch in den sakralen überführt, durch Gestaltung und Kontext mit neuer Bedeutung überschrieben. Ähnliches geschieht beim Wunstorfer Reliquienkästchen mit den Beinbeschlägen, die vermutlich aus Rinder- und Pferdeknochen (Metapodien), d.h. Schlachtabfällen bzw. -nebenprodukten hergestellt wurden.[11] (Abb. 1) Die Leisten mit Kreismotiven, die Deckel und Seitenwände rahmen, erinnern an byzantinische Rosetten-Kästen des 10. Jahrhunderts aus Elfenbein, deren plastisch gestaltete Zierleisten mythologische und Liebesszenen einfassen, die auf einen profanen Kontext hinweisen.[12]

Anstelle plastischer Bearbeitung importierten Elfenbeins tritt am Wunstorfer Kästchen jedoch die einfache Ritzung von Knochenplättchen mittels Zirkelschlag, das heißt eine plane, geometrisch geordnete Struktur. Die Rahmenleisten füllen Doppelkreise mit kreuzförmig inserierten Kreisaugen. Eine vergleichbare Rahmung durch Repetition einer Kreis-Kreuzform findet man z.B. in den Emails des Adelhauser Tragaltars.

Abb. 6: Adelhauser Tragaltar, Franken/Regensburg? 3. Drittel 8. Jh., 2,1 x 38,1 x 17,3cm: Eichenholz mit eingelassenem Porphyrstein zwischen Silberblechen mit Emailkreu-zen und Niello-Zier, gerahmt durch Emailplättchen mit Kreisen mit eingeschriebenen Kreuzen, Augustinermuseum, Freiburg im Breisgau, Inv. Nr. A 1316, Foto: Hans-Peter Vieser, https://onlinesammlung.freiburg.de/de/object/07A7CDD8476CFA34BE1D02AA80915918. Lizenz: CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.

Abb. 6: Adelhauser Tragaltar, Franken/Regensburg? 3. Drittel 8. Jh., 2,1 x 38,1 x 17,3cm: Eichenholz mit eingelassenem Porphyrstein zwischen Silberblechen mit Emailkreuzen und Niello-Zier, gerahmt durch Emailplättchen mit Kreisen mit eingeschriebenen Kreuzen, Augustinermuseum, Freiburg im Breisgau, Inv. Nr. A 1316, Foto: Hans-Peter Vieser, https://onlinesammlung.freiburg.de/de/object/07A7CDD8476CFA34BE1D02AA80915918. Lizenz: CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.

Die kreuzförmige Gliederung dieser Doppelkreise erinnert jedoch auch an merowingische Scheibenfibeln wie die sogenannte Sarre Brooch, die in einem Frauengrab zusammen mit einer Kette mit anhängenden Goldmünzen gefunden wurde.

Abb. 7: Sarre Brooch/Scheibenfibel aus einem Frau-engrab in Kent, 1. Hälfte 7. Jh., D. 6,8cm; Almandi-ne, Muschelschale; zugehörige Kette mit fünf Anhä-ngern: mittig ein Millefiori-Medaillon, daneben vier Goldmünzen: ein Solidus Chlotars II. (r. 584629) sowie drei pseudo-byzantinische Münzen, The British Museum, London, Inv. Nr. 1860.1024, https://www.britishmuseum.org/collection/image/236864001. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/.

Abb. 7: Sarre Brooch/Scheibenfibel aus einem Frauengrab in Kent, 1. Hälfte 7. Jh., D. 6,8cm; Almandine, Muschelschale; zugehörige Kette mit fünf Anhängern: mittig ein Millefiori-Medaillon, daneben vier Goldmünzen: ein Solidus Chlotars II. (r. 584–629) sowie drei pseudo-byzantinische Münzen, The British Museum, London, Inv. Nr. 1860.1024, https://www.britishmuseum.org/collection/image/236864001. Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/.

Viele Scheibenfibeln spielen mit dem Wechsel von Goldglanz und farbigem Almandin bzw. Glaspaste. Dieses Spiel findet am Wunstorfer Beinkästchen eine Entsprechung in den vergoldeten Kupferplatten, die den durchbrochenen Kreisornamenten aus hellem Knochen unterlegt sind, heute auf Fotografien jedoch nur schwarz verschattet erscheinen.[13] Oft sind solche Scheibenfibeln kreuzförmig gegliedert, manchmal auch sechsteilig und rufen somit das Christusmonogramm XP auf.[14]

Abb. 8: Scheibenfibel, fränkisch 6. Jh., 3,5 x 2cm, Kupferlegierung und Glasfluss, Metropolitan Museum, New York, Inv. Nr. 17.193.259, https://www.metmuseum.org/art/collection/search/465584. Lizenz: CC0, https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/.

Abb. 8: Scheibenfibel, fränkisch 6. Jh., 3,5 x 2cm, Kupferlegierung und Glasfluss, Metropolitan Museum, New York, Inv. Nr. 17.193.259, https://www.metmuseum.org/art/collection/search/465584. Lizenz: CC0, https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/.

Im Gegensatz zu den fünfteilig durchbrochenen Kreisen an den Seitenflächen des Wunstorfer Beinkästchens sind jene des Deckels sechsteilig.[15] (Abb. 1) Sie sind zudem eingebettet durch mit Kreisaugen gefüllte, hinter- bzw. überschneidende Kreise. Beim rechten Kreis ist die Zirkel-Konstruktion durch trennende Kreislinien noch angedeutet, während sie links in vielfache Perlringe aufgelöst wird. Diese abstrakte dreifache, überschneidende Kreisstruktur ruft zeitgenössische Darstellungen der Majestas Domini auf, so im Sakramentar von St. Georg in Köln um 1000.[16]

Bei der Übergabe in das Welfen-Museum 1862 befanden sich in dem Kästchen noch zwei mit Cedulae bezeichnete Reliquien: Erde vom Ölberg und Erde vom Berg Tabor, wo Christus betete und sich seinen Jüngern in blendendem Licht als Gottessohn offenbarte (Mt 17,1–8; Mk 9,2–9; Lk 9, 28–36). Für diejenigen, die um diese Reliquien im Innern des Kästchens wissen, erhält die Gestaltung des Deckels Verweischarakter. In der Mittelachse erscheint im Silberdenar (Herzog Bernhards) das Kreuz als Zeichen des Opfers, das Christus im Gebet am Ölberg angekündigt wird, begleitet von Kreisaugen-Kreuzen in den beiden kleinen Medaillonfeldern der Beinplatte. (Abb. 2) So entsteht eine Dreiergruppe von Kreuzen, unter denen dasjenige Christi durch Metallglanz gegenüber denjenigen der mit ihm gekreuzigten Diebe Gesmas und Dismas hervorgehoben wird, wie es in Darstellungen der drei Kreuze auf Golgatha im Frühmittelalter geläufig war.[17] Die ursprünglich golden schimmernd ausstrahlenden Kreise in den sich ausdehnenden Perlkränzen daneben lassen sich als Bildzeichen der Offenbarung der göttlichen Natur Christi am Berg Tabor lesen und auf seine endzeitliche Herrschaft hindeuten.

Trotz seiner materiell einfachen Bekleidung ist die Gestaltung des Wunstorfer Beinkästchens komplex. Es erinnert an prächtige profane byzantinische Elfenbeinkästchen sowie an frühmittelalterlichen Schmuck. Doch werden diese profanen Evokationen abstrahierend in eine geometrisch bestimmte, ornamentale Gesamtstruktur eingebettet. Diese ist durch Kreuzmotive in den Rahmenleisten und die Chrismon-Mandorla-Motive des Deckels geistlich geprägt. So wird am Wunstorfer Kästchen auch ohne weitere materielle Spolien die Transformation von weltlichem Schmuck in sakralen thematisiert.[18] Selbst im Denar Ottos scheint die Kreuzform nicht nur in der Kreuz-Bekrönung des Giebels auf, sondern auch in den kreuzförmig in die Legende integrierten O-Kreisen seines Namens. Die Münzen können so einerseits als Verweis auf zeitgenössische sächsische Herrscher und deren (erhofften) Schutz für das Wunstorfer Damenstift fungieren. Andererseits werden sie in die Transformation weltlicher Objekte in eine vom Kreuz und Kreis als Zeichen des Göttlichen bestimmte Gesamtstruktur des Reliquienkästchens einbezogen. Möglicherweise wird in der Gestaltung des Kästchens jedoch auch an konkrete Objekte erinnert, die bei einem durch Blitzschlag ausgelösten, verheerenden Brand der Wunstorfer Stiftskirche 1010 verloren gingen.[19] Darauf könnten die Fragmente hinweisen, die sich neben den genannten Reliquien 1862 im Kästchen befanden: eine Bronzekette, ein Goldblech mit Filigran und ein gebogener Knochen mit Kreismustern – Relikte des alten Kirchenschatzes?

Alle angegeben Links wurden am 5. Oktober 2024 geprüft.

[1] Sven Mahmens, Art. „Wunstorf – Kanonissenstift mit angeschlossenem Kanonikerstift“, in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, hrsg. von Josef Dolle, Bielefeld 2012, Teil 3: Marienthal bis Zeven, S. 1576–1590, hier S. 1580.

[2] Sabine Schmidt, Nr. 139, in: Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn und dem Ruhrlandmuseum Essen, Katalogkoordination Jutta Frings und Jan Gerchow, München 2005, S. 265f.

[3] Roger Svensson, Renovatio Monetae. Bracteates and Coinage Policies in Medieval Europe, London 2013, S. 44.

[4] Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, hier S. 16f., 63; vgl. Susanne Wittekind, Brakteaten als populäres Bild-, Propaganda-, Erinnerungs- und Heilsmedium, in: Populäre Bildkulturen der Vormoderne. Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption, hrsg. von Ekaterini Kepetzis und Maria Männig, Berlin 2024, 91–124.

[5] Zuletzt Charlotte Behr, Nr. 147, in: Credo – Christianisierung Europas im Mittelalter. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum, im Museum in der Kaiserpfalz und in der Städtischen Galerie Am Abdinghof zu Paderborn, hrsg. von Christoph Stiegemann, Martin Kroker und Wolfgang Walter, Petersberg 2013, Bd. 2, Katalog, S. 196f.

[6] Bernd Kluge und Michael Peter, Nr. II 13, in: Otto der Grosse: Magdeburg und Europa, hrsg. von Matthias Puhle und Gabriele Köster (Katalog der 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt), Mainz 2001, Bd. 2: Katalog, S. 32f.

[7] Der Andreas Tragaltar: Restaurierungsgeschichte, offene Forschungsfragen und Neupräsentation eines Hauptwerks der ottonischen Goldschmiedekunst, hrsg. vom Museum am Dom Trier (Treveris sacra 6), Regensburg 2024, S. 210, Tafel 10: Schmalseite mit wiederverwendeter karolingischer Ornamentplatte in durchbrochener Arbeit (Goldblech vor Glasflussgrund) mit Perlbesatz und Almandinscheibe, deren Zentrum ein vor 538 geprägter Gold-Solidus mit Bildnis Kaiser Justinians I. (527–565) mit der Umschrift D[OMINVS] N[OSTER] IVSTINIANNVS P[ER] P[ETVVS(?)] AVG[VSTVS einnimmt.

[8] Hiltrud Westermann-Angerhausen, Erzbischof Egberts Kirchenschatz und das Erbe der Karolinger in Trier, in: Der Andreas Tragaltar: Restaurierungsgeschichte, offene Forschungsfragen und Neupräsentation eines Hauptwerks der ottonischen Goldschmiedekunst, hrsg. vom Museum am Dom Trier (Treveris Sacra 6), Regensburg 2024, S. 110–128, hier S. 120f.

[9] Frauke Steenbock, Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965, S. 114f., Nr. 37; Kaiserin Theophanu: Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hrsg. von Anton von Euw, Köln 1991, Bd. 2, S. 125, Abb. 17.

[10] Carol L. Neuman de Vegvar, A Feast to the Lord – Drinking Horns, the Church, and the Liturgy, in: Objects, Images and the Word: Art in the Service of the Liturgy, hrsg. von Colum Hourihane (Index of Christian Art occasional papers 6), Princeton 2003, S. 231–256, hier S. 231 zum Beschluss des Konzils von Chelchyth 787.

[11] Markus Miller, Schatzbaukasten. Die Große Kölner Beinschnitzwerkstatt des 12. Jahrhunderts, Mainz 1997, S. 16f.; Hans-Werner Peine und Nils Wolpert, Von Metapodien zu Kämmen, Reliquiaren und Schachfiguren: das Handwerk des Knochenschnitzers im mittelalterlichen Westfalen, in: Echt alt! Mittelalterliches Handwerk ausgegraben: Sonderausstellung im LWL-Freilichtmuseum Hagen, hrsg. von Anke Hufschmidt (Forschungsbeiträge zu Handwerk und Technik 33), Hagen 2018, S. 174–197. Mit Zirkelkreismotiven verziert wurden z.B. auch Trictrac-Spielfelder, Spielsteine und Kämme, ebd. S. 186f., 194f.

[12] Wie z.B. das folgende Objekt: Veroli Casket – Rosettenkästchen mit mythologischen Szenen, Byzanz 2. Hälfte 10. Jh., Elfenbein und Knochen, 11,5 x 40,4 x, 16cm, Victoria & Albert Museum, London, Inv. Nr. 216-1865, https://collections.vam.ac.uk/item/O70463/veroli-casket-casket-unknown/.

[13] Zu metallischen Rücklagen durchbrochener Arbeiten unter den Aspekten Materialtransfer und Evokation s. Arne Leopold, Zur Intermaterialität geschnitzter Kästen aus Holz. Die Imitation von Elfenbein, Seide und Gold im Hoch- und Spätmittelalter (Materialität und Produktion 3), Berlin/Boston 2024, S. 427–464.

[14] Siehe z.B. die Scheibenfibel von Linon, Mitte 7. Jh. (Paris, Bibliothèque National de France, Cabinet des Médailles, Inv. Nr. 56.323), dazu Egon Wamers, Nr. 105, in: Stiegemann, Kroker und Walter, Credo (wie Anm. 5), S. 141: D. 6,5cm, sechsteilig durchbrochener Kreis, mittig das nimbierte Gesicht Christi, eingeschrieben zwischen A und Ω sowie R.

[15] Heinz Meyer und Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (Münstersche Mittelalterschriften 56), München 1987, Sp. 403–442 zur Fünf als Zeichen der Unvollkommenheit, der corporalitas des Menschen, des Alten Bundes, Sp. 442–479 zur Sechs als Zeichen der Vollkommenheit (numerus perfectus).

[16] Zum Sakramentar aus St. Gereon s. Joshua O’Driscoll, Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex, hrsg. von Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 113–127. Vgl. auch die Abbildung in Anton Legner, Rheinische Kunst und das Kölner Schnütgen-Museum, Köln 1991, S. 26, Abb. 14: Sakramentar von St. Gereon, Köln um 1000 (Paris, Bibliothèque Nationale de France, lat. 817, fol. 15v), Majestas Domini vor dem Canon missae.

[17] Beatrice E. Kitzinger, The Cross, The Gospels, and the Work of Art in the Carolingian Age, Cambridge 2019, S. 77 zur Initiale des Inventio crucis-Fests im Sakramentar von Gellone, Ende 8. Jh. (Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Lat. 12048, fol. 76v, Digitalisat: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b60000317/f160.item#); S. 168f. zur Kreuzigungsszene der Laud Gospels, Britannien/West-Frankreich 9.–10. Jh. (Oxford, Bodleian Library, Ms. Laud Lat. 26, fol. 9v, Digitalisat: https://digital.bodleian.ox.ac.uk/objects/e6a7dd3a-86b6-43da-8c2a-6d5e91d73d25/surfaces/4d0a1f79-7df2-48fb-ba9c-d12a6d2c53a5/). Zu den Golgatha-Kreuzgruppen in der Wandmalerei von San Salvador de Valdediós/Asturien Ende 9. Jh. s. Achim Arbeiter und Sabine Noack-Haley, Christliche Denkmäler des frühen Mittelalters vom 8. bis ins 11. Jahrhundert (Hispania Antiqua X), Mainz 1999, S. 192–201 mit Abb. 123 (Achim Arbeiter).

[18] Susanne Wittekind, Übereignung. Profaner Schmuck auf sakralen Kunstwerken, in: Movement | Mouvement. Handlungsfelder des Ästhetischen und Politischen in der Kunst. Festschrift für Ursula Frohne, hrsg. von Lilian Haberer und Karina Nimmerfall, München 2023, S. 99–102.

[19] Martina Giese, Die Annales Quedlinburgenses, Kommentar und Edition (MGH SS rer. Germ 72), Hannover 2004, S. 530: Basilica in Ungerestorp fumine terribiliter interiit.


D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise / Suggested Citation: Susanne Wittekind, Münzen und Knochen als Reliquienschmuck?, in: Von unbequemen Dominikanern, organisierten Handwerkern und gefertigten Dingen. Festschrift für Sabine von Heusinger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Julia Bruch, Eva-Maria Cersovsky und Andreas Lehnertz (Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, Beihefte 5,1), S. 121–130, DOI: https://doi.org/10.26012/mittelalter-33902.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
susannewittekind (17. Januar 2025). Münzen und Knochen als Reliquienschmuck? Mittelalter. Abgerufen am 13. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/133lh


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