Frauenfrage und Gendern im Mittelalter? Eine Relecture von Karl Bücher
Zusammenfassung: Der Beitrag fokussiert Sabine von Heusingers Arbeiten zur Rolle der Frauen im mittelalterlichen Wirtschaftsleben in einer kritischen Relecture von Karl Büchers Auseinandersetzung mit der „Frauenfrage im Mittelalter“ (1910).
Abstract: The article focuses on Sabine von Heusinger’s work on the role of women in medieval economic life in a critical re-reading of Karl Bücher’s examination of the ‘Women’s Question in the Middle Ages’ (1910).
Soziale Mobilität, Durchlässigkeit und Dynamik in der mittelalterlichen Stadt, die großen Forschungsthemen von Sabine von Heusinger haben nicht zuletzt die Allgegenwart von Frauen, näherhin deren Verdrängung aus dem sogenannten historischen Allgemeinwissen über vormoderne Wirtschaftsweisen sichtbar gemacht. Eindrücklich beleuchtet sie u.a. in ihrer prosopographischen Studie zu den Straßburger Zünften die Rolle mancher Frauen, gar als vollwertige Zunftmitglieder. Allein der Sprachgebrauch in vielen Zunftordnungen spricht Bände. Allerorten ist von „manne oder frauwe“, von „lereknaben oder lerefrauwe“ die Rede, ein Sprachgebrauch den wir heute als gendergerechte Formulierungen bezeichnen würden.[1]
Das Anliegen „so zu formulieren, dass Menschen aller Geschlechter angesprochen werden“ und einen Umgang mit Sprache zu finden, „durch den möglichst […] alle repräsentiert werden“ – wie es die Antidiskriminierungsstelle des Bundes als Antwort auf das bayerische Genderverbot im März 2024 formulierte –, war offenbar dem Mittelalter nicht fremd.[2] Und doch wird die Abneigung gegen gendergerechte Sprache oft historisch begründet, mit dem Verweis darauf, die Frauen hätten über Jahrhunderte selbstredend gewusst, dass auch sie mitgemeint sind, wenn von Männern die Rede ist.
Dass nun ausgerechnet in den spätmittelalterlichen Zunftordnungen beide Geschlechter regelmäßig explizit genannt werden, mag in doppelter Hinsicht irritieren. Zum einen aus sprachhistorischer, zum anderen aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive, denn wider besseres Wissen gilt die Erwerbstätigkeit von Frauen bis heute als eine Errungenschaft der Moderne. Diesem Mythos ist schwer beizukommen. Ein klassischer Fall für die Ohnmacht der Wissenschaft gegenüber Geschichtsmythen.[3] Da Sabine von Heusinger hier wichtige Beiträge geleistet hat, möchte ich diese Festschrift zum Anlass nehmen, die Arbeiten des Wirtschaftshistorikers Karl Bücher, insbesondere die „Zur Frauenfrage im Mittelalter“ aus dem Jahre 1882, in Erinnerung zu rufen.[4]
Zur besseren Einordnung zunächst einige Vorbemerkungen zum Kontext. Karl Bücher (1847–1930) gehört mit Gustav Schmoller, Lujo Brentano und Adolf Wagner zu den Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonomie, die auf empirische Forschung, also praxisnahe und lösungsorientierte Wissenschaft setzten. Historische Wandelbarkeit und kulturelle Variabilität galten ihnen als forschungsleitende Prämissen. Sie arbeiteten streng induktiv, setzten auf statistische Erhebungen und lehnten die theoriegeleiteten, deduktiven Ansätze der neoklassischen Schule ab. Mehr als zwanzig Jahre, von 1892–1917 lehrte Bücher an der Universität Leipzig, damals das Zentrum der deutschen Nationalökonomie. Er war Mitbegründer der Sächsischen Kommission für Landesgeschichte (1894), der Leipziger Handelshochschule (1898) und des ersten Instituts für Zeitungskunde (1916). Die Methoden der Datenerhebung verknüpfte er systematisch in Forschung und Lehre. So erstellte er in Kooperation mit seinen Mitarbeitern und Studenten in seinen Seminaren eine umfassende „Enquête“ zur „Lage des Handwerks in Deutschland“. Die Ergebnisse der Einzelstudien fanden Eingang in ein umfangreiches fünfbändiges Werk, das 1895–1897 erschien.[5] Ähnliches gilt für seine kulturübergreifende ethnologische Studie „Arbeit und Rhythmus“, die erstmals 1896 erschien und kontinuierlich erweitert wurde, bis in die sechste Auflage im Jahr 1924. Es ging Bücher darin um Rhythmus als ökonomisches Entwicklungsprinzip, gemeinsames Singen als eine Form der Koordination und der Kooperation, die Lustgefühle bei der Arbeit weckt und ästhetische Kreativität anregt. Was Bücher mit einer Sammlung von Arbeitsliedern Westerwälder Schnitter*innen bereits im Studium begann, wurde in einem Verfahren, das wir heute als Open-Peer-Review-Prozess bezeichnen würden, kontinuierlich ausgebaut. Jede Neuauflage war um vieles dicker als das Vorgängerexemplar, bereichert durch unzählige Beiträge, Lieder aus den verschiedensten Epochen und Kulturen, bis hin zu Jazz und Blues, die Kolleg*innen und Studierende Bücher zutrugen.[6]
Anders, so scheint es, ging er bei den Studien zur vormodernen Wirtschaft vor. Die statistische Erhebung zu den „Berufen der Stadt Frankfurt“ etwa gehen zurück auf intensive Archivarbeit in seiner Frankfurter Zeit, wo er 1873–1880 als Lehrer an der dortigen Gewerbeschule Latein und Geografie unterrichtete, parallel dazu als Journalist und später Redakteur für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Frankfurter Zeitung arbeitete und viel Zeit im Frankfurter Stadtarchiv mit der Auswertung der Steuerbücher verbrachte. Erste Ergebnisse reichte er 1881 als Teil seiner kumulativen Habilitationsschrift „Zur mittelalterlichen Bevölkerungsstatistik mit besonderer Rücksicht auf Frankfurt a. M.“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München ein. Die Arbeit erschien noch im selben Jahr in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“.[7] Erst im April 1914, als Alterswerk, veröffentlichte Bücher dann die Daten.[8] Er spricht von einem Wörterbuch und weist auf die Unkonventionalität seiner Methode ausdrücklich hin: „Wenn im Nachfolgenden eine nationalökonomische Arbeit vorgelegt wird, die sich in Gestalt eines Wörterbuchs darstellt, so bin ich mir wohl bewußt, daß ein Verfahren angewandt wird, das sonst in meiner Wissenschaft nicht gebräuchlich [ist]“.[9] Auch betont er die langjährige Arbeit, die das Projekt erforderte und beruft sich auf Vorarbeiten von Johann Carl von Fichard und Georg Ludwig Kriegk, die schon vor ihm über die Vermögenssteuerlisten der Stadt, die sogenannten Bedebücher gearbeitet hatten.
Die Frankfurter Steuerbücher dürfen als überlieferungsgeschichtlicher Glücksfall gelten, da mehr als 80 Jahrgänge von 1320 bis 1510 erhalten waren, also eine serielle Überlieferung von fast 200 Jahren. Dass diese Quellen im Zweiten Weltkrieg vollständig verbrannten, macht Büchers Arbeiten heute umso wertvoller. Weitere Quellen waren die Bürgermeisterbücher (Memoriale) mit kurzen Angaben über Ratsbeschlüsse und Geschäfte sowie die Frankfurter Gerichtsbücher, da die vor Gericht verhandelten Konflikte oft die Berufstätigkeit betrafen. Schließlich ging Bücher sämtliche Rechnungsbücher durch, insbesondere die Boten- und die Baumeisterbücher, wo die Stadt als Auftraggeber alle Bezahlungen für geleistete Arbeiten verzeichnete. Auch ein Häuserverzeichnis aus dem Jahr 1438, die sogenannten Instanzbücher, sowie Bürgerverzeichnisse aus den Jahren 1387 und 1440 zog er hinzu.[10] Eine beeindruckende Leistung, bedenkt man, dass ihm für die Erhebung seiner Daten die heute üblichen Hilfsmittel nicht zur Verfügung standen.
Auf diese Arbeit in der Frankfurter Zeit geht auch Büchers Beschäftigung mit der „Frauenfrage“ zurück. Denn was ihn, neben der Vielzahl der – mehr als 1.500 verschiedenen Berufe – und der Prominenz von Recyclingberufen ganz besonders überraschte, war die „Anteilnahme der Frauen am Erwerbsleben“.[11] Kurz nach seiner Habilitierung hielt er erstmals im „Liebigschen Hörsaale zu München vor gebildeten Frauen und Männern“ einen Vortrag zu diesem Thema, der unter dem Titel „Die Frauenfrage im Mittelalter“ 1882 veröffentlicht wurde.[12] Ausgangsbefund war die übergeordnete Bedeutung des männlichen Geschlechts als Grundbedingung für die Zugehörigkeit zu einer Zunft. Dass sich trotz „dieser anscheinend in der Natur der Sache liegenden grundsätzlichen Ausschliessung der Frauen wenigstens vom zünftigen Gewerbebetrieb“[13] das ganze Mittelalter hindurch die Frauen vielfach gewerblich betätigten, sah Bücher als Beweis für die Kluft zwischen Theorie und Realität und dokumentierte, mit einer fast diebischen Freude die Vielfalt weiblicher Berufsfelder des Mittelalters.
Dass die Witwe eines Meisters das Geschäft ihres Mannes forttreiben durfte, konnte er damals noch als bekannt voraussetzen, dass Ehefrauen, Töchter und Mägde in das Geschäft eines Handwerkers mit eingebunden waren ebenso.
„Viel wichtiger erscheint mir, dass Frauen und Mädchen innerhalb eigener oder fremder Gewerbebetriebe zahlreiche Verwendung fanden, bald als abhängige Lohnarbeiterinnen, bald sogar als selbständige Meisterinnen. War das betreffende Gewerbe zünftig, so konnten hier und da die Frauen in eigenem Namen den Zünften mit gleichem Rechte wie die Männer angehören; war es unzünftig, so waren sie selbstverständlich keinerlei Beschränkungen unterworfen. Endlich finden wir sogar Gewerbe mit zünftiger Ordnung, die ausschliesslich aus Frauen bestanden.“[14]
Die Frankfurter Weberordnung aus dem Jahr 1377 führte er als ältesten Beleg der Regulierung der Frauenarbeit durch die öffentliche Gewalt an. Er fand Frauen unter den Kürschnern, bei den Bäckern, den Wappenstickern, aber auch bei den Lohgerbern, Goldspinnern und Goldschlägern und kam zu dem Schluss:
„Im ganzen können wir sonach behaupten, dass im Mittelalter die Frauen von keinem Gewerbe ausgeschlossen waren, für das ihre Kräfte ausreichten. Sie waren berechtigt, Handwerke ordnungsmässig zu lernen, sie als Gehilfinnen, ja selbst als Meisterinnen zu treiben.“[15]
Und dann zählte er die Frauenberufe auf, die er in den Frankfurter Quellen aus der Zeit zwischen 1320 und 1500 gefunden hatte, nämlich „200 Berufsarten mit Frauenarbeit“. Davon fand er ausschließlich weibliche Namen in 65 Berufen, insbesondere im Textilgewerbe. In 17 überwogen die Frauen, in 38 waren Männer ungefähr gleich stark vertreten und in 81 fand sich ein Übergewicht der Männer, doch waren Frauen ebenfalls vertreten. Nach Büchers statistischen Ermittlungen für die Jahre 1354 bis 1510 machten Frauen bis zu einem Viertel der Steuerpflichtigen Frankfurts aus, und er schätzte den Anteil der berufstätigen Frauen noch weit höher, da selbstständig wirtschaftende Frauen in Klöstern und Beginenhöfen ebenso wie Pfründerinnen in den städtischen Steuerbüchern gar nicht auftauchen.[16]
Bücher begründete die vielen berufstätigen Frauen im vormodernen Frankfurt mit einem eklatanten Frauenüberschuss. Da er einen solchen statistisch nicht nachweisen konnte, postulierte er ihn einfach, mit gänzlich wissenschaftsfernen Argumenten. Zum einen sei das männliche Leben im Mittelalter zahlreichen Bedrohungen durch Fehden, blutigen Bürgerzwisten und gefährlichen Handelsreisen ausgesetzt gewesen, zweitens seien Männer schneller von der Pest hinweggerafft worden als Frauen, und drittens führte Bücher den von ihm postulierten Frauenüberschuss auf die „Unmässigkeit der Männer in jeder Art von Genuss“ zurück. Außerdem, so spekulierte Bücher weiter, sei die „Vermutung nicht abzuweisen, dass die städtische Berufsarbeit in engen, ungesunden Räumen, zwischen hohen, dicht zusammengerückten Häusermauern bei der Unvollkommenheit der technischen Hilfsmittel viel mehr aufreibende Muskelarbeit von den Männern erfordert habe […].“ Der „Daseinskampf“ – so Büchers Einschätzung – sei damals für die Männer viel härter gewesen als für die Frauen, aber auch im Vergleich zu seiner Gegenwart.[17] Das Schöne ist, dass diese eher vorwissenschaftlichen Spekulationen Büchers Verdienste als Statistiker in keinster Weise schmälern. Der Wert seiner Datenerhebung zu den Frauen im Wirtschaftsleben der mittelalterlichen Stadt Frankfurt bleibt unschätzbar hoch, um so mehr als ein Großteil der zu Grunde liegenden Quellen, insbesondere die Bedebücher, heute nicht mehr existieren.[18]
Hier eine kurze Zusammenfassung seiner Ergebnisse zu den unterschiedlichen Gewerben: Dass sich die Feinbäckerei vorzugsweise in Frauenhand befand, mag noch angehen, dass jedoch die Frankfurter Bierbrauerei ausschließlich von Frauen beherrscht wurde, ist doch einigermaßen überraschend. Das gleiche gilt für die Herstellung von Kerzen und Seife. Der Kleinhandel mit Obst, Kleinvieh, Lebensmitteln oder Saatgut wurde fast nur von Frauen betrieben. Ebenso das Maklergeschäft (Hockenwerk und Trödel), doch auch der Handel mit Hafer und Heu waren in Frankfurt vielfach in den Händen von Frauen. Erstaunt stellte Bücher fest, dass auch unter den steuerpflichtigen Gauklern zahlreiche Frauen zu finden sind, dass im Schnitt an die 30 bis 40 Bademägde in Frankfurts Badstuben arbeiteten und die Gäste badeten und rasierten. Musikantinnen hat er gefunden, Lauten- und Zimbelschlägerinnen, Pfeiferinnen, Fiedlerinnen und Schellenträgerinnen. Und auch in den Kanzleien waren Abschreiberinnen und Briefdruckerinnen zumindest vereinzelt zu finden. Bücher erwähnt eine Malerin, die im Steuerbuch des Jahres 1346 genannt werde, führt diese aber in den „Berufen der Stadt Frankfurt“ unter den Malern nicht auf. Stattdessen listet er 1486 eine Malerin, der die Stadt eine eigene Stube, plus Gehilfinnen und einen Beichtvater stellte.[19] Ab 1484 taucht regelmäßig die Berufsbezeichnung Juttchen für Puppenmalerinnen auf. Dass Frauen als Hebammen und Krankenpflegerinnen in städtischen Diensten standen, mag nicht besonders überraschen, Schlaghüterinnen, Pförtnerinnen, Turmwächterinnen, Zöllnerinnen und Viehhüterinnen hingegen schon. Auch wurden Frauen für städtische Kundschafterdienste entlohnt. Schließlich zählte Bücher unter den elf Personen, denen der Rat im Jahr 1368 das Geldwechselgeschäft übertrug, sechs Frauen. Weiter stieß er auf eine Frau als Pächterin des Leinwandzolles, eine andere war Aufseherin und Einnehmerin in der Stadtwage. Und schließlich fällt die wiederholte Nennung weltlicher Schulmeisterinnen bereits im 14. Jahrhundert auf. Im Laufe des 15. Jahrhunderts, zwischen den Jahren 1389 und 1497, zählte Bücher insgesamt 15 Ärztinnen, davon vier „Judenärztinnen“ und drei Augenärztinnen. Einigen wurden vom Rat Ehrungen und Steuererleichterungen bewilligt. Bücher schließt mit leicht ironischem Unterton, wenn er feststellt: „Einer der höchsten Träume unserer modernen Emanzipationsfreunde war somit im Mittelalter schon einmal volle Wirklichkeit.“[20]
Dieses Ergebnis statistischer Auswertung mittelalterlicher Vermögenssteuerlisten Frankfurts könnte eindeutiger nicht sein, es gründet auf solider, evidenzbasierter Forschungsarbeit und wurde prominent publiziert – vor mehr als 100 Jahren – in den Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, nach heutigem Maßstab ein A-plus Journal. Warum – so fragt man sich – feiert der Mythos von der Frau am Herd als der natürlichen Existenzform des weiblichen Geschlechts erneut fröhliche Urstände im kollektiven historischen Unterbewusstsein? Warum wird diese Rolle wieder vermehrt und erfolgreich propagiert etwa in der Wiederentdeckung der sogenannten „Tradwives“?[21] Und dies, obwohl die historischen Wirtschaftswissenschaften hier längst gründlich aufgeräumt haben?[22]
Was Bücher und seine Kollegen betrifft, waren sie Kinder ihrer Zeit. Das hat Beate Wagner-Hasel in ihrer Biografie meisterhaft herausgearbeitet.[23] Sie verweist auf die ambivalente Haltung der historischen Schule der Nationalökonomie, die zwischen Antifeminismus und Emanzipationsbewegung hin und her pendelte. Die meisten ihrer Vertreter standen der Berufstätigkeit von Frauen kritisch gegenüber und waren verhaftet in der aus der Spätaufklärung stammenden Vorstellung vom moralischen Geschlecht: Demnach galt Moral und Gefühl als weiblich, während Rationalität als spezifisch männlich gesehen wurde. Hinzu kam – so Bücher – die Gefahr eines Verdrängungswettbewerbs zwischen billiger Frauenarbeit und teurer Männerarbeit, die Verkümmerung der Familienhaushaltung und eine Umkehrung der Geschlechterverhältnisse: Dann nämlich, wenn die Frau ihrer vermeintlich natürlichen Berufung als Hausfrau und Mutter, als Vorständin der Familienhaushaltung nicht nachkommen könne. Umso erstaunlicher, dass Bücher als Herausgeber der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft zahlreiche Arbeiten von Frauen veröffentlichte: etwa die Studie von Marie Heller über „Kleingewerbe, Kleinhandel und die großstädtische Grundrente“ (1903), Gertrude Hermes, über den „Kapitalismus in der Florentiner Wollenindustrie“ (1912) oder eine Arbeit über „Die Luxusumsatzsteuer, ein neuer Weg für die Verbrauchsbesteuerung“ von Grete Auerbach (1912) sowie die Studie zur „Finanzverwaltung in den deutschen Territorien des Mittelalters“ von Elisabeth Bamberger (1922). Bezeichnenderweise lehnte er eine 1916 von Rosa Winterstein eingereichte Arbeit zum „Anteil der Frau an der wirtschaftlichen Arbeit des deutschen Volkes“ ab.[24] Für Bücher schien es „gänzlich unmenschlich“ und bedeute den Weg zurück in die Barbarei, „der Frau wieder die Last der Produktion aufzuladen“.[25] Mit Blick auf das Elend der zunehmenden Schar der Fabrikarbeiterinnen hatte er damit natürlich ein dringliches Problem der sozialen Frage angesprochen. Er selbst hatte als Kind in der ländlichen Eigenwirtschaft der Eltern im hessischen Kirberg die „Last der Produktion“ noch selbst erlebt und sah den für das Jahr 1907 konstatierten Zuwachs von 3 Millionen berufstätigen Frauen in Deutschland mit Sorge, weil dieser größtenteils auf Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor beruhte und nicht etwa auf mehr Frauen in der Wissenschaft. Es sollte noch bis 1923 dauern, bis Margarete von Wrangell an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim als erste ordentliche Professorin Deutschlands ernannt wurde.[26]
Zu Büchers Zeiten bestand die vornehmliche Aufgabe der Frau in der Wissenschaft darin, Geselligkeit und sozialen Austausch in der professoralen Haushaltung standesgemäß zu organisieren, und so die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Welt im regelmäßigen Austausch, bei Einladung von Kollegen, aber auch Studenten zu demonstrieren. Büchers Ehefrau, Tochter eines Heidelberger Juraprofessors, ging in dieser Aufgabe auf. Das zeigen die Briefe, die sie hinterließ. Emilie war hochgebildet, mehrsprachig erzogen und fühlte sich wohl im Kreise der Kollegen ihres Mannes, pflegte rege Freundschaften zu deren Gattinnen, reiste gemeinsam mit Freundinnen regelmäßig in die Sommerfrische, übersah das Personal, stellte die Kindermädchen ein und kümmerte sich um die Bildung ihrer Kinder. Die zahlreichen Einladungen in ihrem Haus waren beides, willkommene Abwechslung und ebenso unausweichliche wie kostspielige Pflicht. Immer wieder notierte sie den Aufwand für Köchin, Servierfrau und Speisen für die Abendgesellschaften. Die von ihr sogenannten „Reformgesellschaften“ mit jüngeren Kollegen waren ihr lieber als die Abendgesellschaften für ältere Geheimräte. Für letztere stellte sie regelmäßig Köchin und Servierfrau ein. Ihr Dienstmädchen ging beiden zur Hand. Für die „Reformgesellschaften“ kochte die Magd. Weibliche Berufstätigkeit außer Haus war in der privilegierten professoralen Lebenswelt eines Professorenhaushalts der Jahrhundertwende keine attraktive Option. Ein Brief Emilies vom Frühsommer 1894 an Mutter und Schwester bringt das wunderbar auf den Punkt:
„Nächsten Donnerstag 31st. haben wir unsere 6te Einladung […] 4x ohne Köchin. Das nächste mal, weil es fast lauter Geh[eim]Räthe sind, wird wieder ein Küchendrache draußen regieren, den Kochlöffel schwingen! […] Wißt ihr – mühsam ist die Geschichte auf diese Weise nicht, Karl richtet das Geschirr etc., die Servierfrau deckt den Tisch, holt die dessert u. compotteller, Tassen etc. aus dem Schrank heraus, ich übersehe das Ganze, Karl zahlts.“[27]
Mühsam scheint diese Rolle der Frau in der Wissenschaft wahrhaft nicht. Hier liegt ein wichtiger Grund für die Verdrängung. Wer käme in diesem privilegierten Arrangement auf die Idee, die außerhäusliche Berufstätigkeit der Frauen attraktiv zu finden? Als Wissenschaftler hat Bücher die Geschichte berufstätiger Frauen in der Vormoderne empirisch nachgewiesen, als Mensch, als Familienvater und als Gatte jedoch musste ihm – in Übereinstimmung mit seinen Kollegen – eine Wiedereinführung nicht nur als „Weg zurück in die Barbarei“,[28] sondern auch als Abstieg erscheinen.
Ein Kampf gegen Windmühlen also? War all die viele Forschungsarbeit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, waren all die Arbeiten von Sabine von Heusinger zur sozialen Mobilität, zur Durchlässigkeit und Dynamik und zur Normalität der berufstätigen Frau in der mittelalterlichen Stadt umsonst? Ganz sicher nicht. Steter Tropfen höhlt den Stein. Den Beweis dafür erbringen derzeit u.a. die Initiatorinnen des Arbeitskreises für spätmittelalterliche Wirtschaftsgeschichte,[29] alles Frauen, die maßgeblich von Sabine von Heusinger inspiriert und gefördert wurden.
Alle angegebenen Links wurden am 10.04.2025 geprüft.
[1] Sabine von Heusinger, Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 206), Stuttgart 2009, S. 215–219.
[2] Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Standpunkte – Rechtliche Einschätzung staatlicher „Genderverbote“, April 2024, https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Standpunkte/05_genderverbot.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (15.11.2024) als Antwort auf das Verbot gendergerechter Sprache in bayerischen Behörden im März 2024; siehe Pressemitteilungen der Bayerischen Staatsregierung, vom 19. März 2024: Herrmann: Bayern beschließt Verbot der Gendersprache, https://www.bayern.de/herrmann-bayern-beschliesst-verbot-der-gendersprache/.
[3] František Graus, Die Ohnmacht der Wissenschaft gegenüber Geschichtsmythen, in: František Graus. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Hans-Jörg Gilomen, Peter Moraw und Rainer C. Schwinges, Stuttgart 2002, S. 49–63.
[4] Beate Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten. Der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt a.M. 2011, S. 34; Karl Bücher, Die Frauenfrage im Mittelalter, Tübingen 1910 (erstmals erschienen 1882).
[5] Siehe zu Leben und Werk Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten (wie Anm. 4); Sebastian Göschel, Bücher, Karl Wilhelm, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. Online-Ausgabe: https://saebi.isgv.de/biografie/Karl_B%C3%BCcher_(1847-1930); Karl Bücher, Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, 9 Bde., Leipzig 1895–1897.
[6] Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1896, 6. verb. und erw. Aufl. Leipzig1924.
[7] Karl Bücher, Zur mittelalterlichen Bevölkerungsgeschichte mit besonderer Rücksicht auf Frankfurt a. M, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 37 (1881), S. 535–580; vgl. Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten (wie Anm. 4), S. 50.
[8] Karl Bücher, Die Berufe der Stadt Frankfurt a. M. im Mittelalter, Leipzig 1914.
[9] Ebd., S. 3.
[10] Ebd., S. 8f. für die detaillierte Auflistung seiner Quellen.
[11] Ebd., S. 8.
[12] Bücher, Frauenfrage (wie Anm. 4), S. Vf.; vgl. auch die Leipziger Ausstellung „Der Nationalökonom und Zeitungskundler Karl Bücher“ (2012), https://www.ub.uni-leipzig.de/ueber-uns/ausstellungen/ausstellungen-2012/karl-buecher (15.11.2024).
[13] Bücher, Frauenfrage (wie Anm. 4), S. 15.
[14] Ebd., S. 15.
[15] Ebd., S. 15f.
[16] Ebd., S. 7.
[17] Ebd., S. 8.
[18] Ebd., S. 21–23.
[19] Bücher, Die Berufe (wie Anm. 8), S. 83.
[20] Bücher, Frauenfrage (wie Anm. 4), S. 22f.; vgl. dazu Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten (wie Anm. 4), S. 176.
[21] Siehe dazu u.a. Catherine Tebaldi, Tradwives and Truth Warriors. Gender and Nationalism in US White Nationalist Women’s Blogs, in: Gender & Language 17,1 (2023), S. 14–38, https://doi.org/10.1558/genl.18551.
[22] The Whole Economy. Work and Gender in Early Modern Europe, hrsg. von Catriona McLeod, Alexandra Shepard Maria und Ågren, Cambridge 2023.
[23] Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten (wie Anm. 4).
[24] Ebd., S. 175–176 mit Belegen in den Anmerkungen.
[25] Bücher, Frauenfrage (wie Anm. 4), S. 24.
[26] Ulrich Fellmeth, Margarete von Wrangell – die erste Ordinaria in Deutschland, in: Margarete von Wrangell und andere Pionierinnen. Die ersten Frauen an den Hochschulen in Baden und Württemberg, hrsg. von ders., Hohenheim 1998, S. 3–26.
[27] Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten (wie Anm. 4), S. 121.
[28] Bücher, Frauenfrage (wie Anm. 4), S. 24
[29] Siehe die Homepage des Arbeitskreises: https://www.wirtschaftsgeschichte.org/de.
(PDF/A-Version)
Empfohlene Zitierweise / Suggested Citation: Annette Kehnel, Frauenfrage und Gendern im Mittelalter? Eine Relecture von Karl Bücher, in: Festschrift für Sabine von Heusinger, hrsg. von Julia Bruch, Eva-Maria Cersovsky und Andreas Lehnertz (Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, Beihefte 5,2), S. 149–158, DOI: https://doi.org/10.26012/mittelalter-36098.
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annettekehnel (31. Oktober 2025). Frauenfrage und Gendern im Mittelalter? Eine Relecture von Karl Bücher. Mittelalter. Abgerufen am 7. November 2025 von https://doi.org/10.58079/152ml





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